70 Jahre Grundgesetz - Recht schafft Raum zum guten Leben

Nachricht 23. Mai 2019
Bevollmächtigte OLKR Dr. Kerstin Gäfgen-Track und OLKR Andrea Radtke; Fotos: J. Schulze, St. Heinze.

Die Bevollmächtigten Kerstin Gäfgen-Track und Andrea Radtke schreiben zum Grundgesetz:

Aus Anlass des 70. Geburtstages des Grundgesetzes wird wieder ins Bewusstsein gerückt, unter welch schwierigen Umständen das Grundgesetz entstanden ist und welche großartige Leistung die Mütter und Väter des Grundgesetzes erbracht haben. Es waren mutige und innovativ denkende Frauen und Männer, die nach der Zeit der Diktatur die verfassungsmäßige Grundlage für einen demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaat erarbeitet haben. Persönlich staunen wir und sind dankbar dafür, dass es trotz der damals vorherrschenden Frauenbilder möglich wurde, die Gleichberechtigung der Frau im Grundgesetz festzuzuschreiben.

Aus heutiger Sicht können wir sagen, dass sich das Grundgesetz mehr als bewährt hat. Zugleich ist gegenwärtig sehr deutlich, dass alle, die in Politik, Zivilgesellschaft, explizit auch die Religionsgemeinschaften und Kirchen aktiv sind, genau wie jede und jeder Einzelne gefordert sind, dafür Sorge zu tragen, dass unsere Verfassung stabil bleibt, Grundrechte gewahrt werden und einklagbar sind.

Das Grundgesetz sagt in seinen Artikeln viel von dem, was Menschen jüdischen und christlichen Glaubens in den biblischen Texten als Weisung fürs Leben hören wie die Achtung der Würde des Menschen und der Menschenrechte mit der Forderung nach Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Meinungsfreiheit, das Recht auf Asyl oder das Recht, nicht zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen zu werden. Mit dem Recht auf „Freiheit des Glaubens“ und des „religiösen Bekenntnisses“ in Artikel 4 respektiert der säkulare Staat – die Loyalität zum Rechtsstaat vorausgesetzt – auch die Freiheit, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen.

Die Verwurzelung von Verfasserinnen und Verfassern im Christentum kommt gerade in der Präambel des Grundgesetzes um Tragen, wo an die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ erinnert wird. Die Bibel erhält nicht zuletzt in ihren ältesten Teilen viele Rechtssätze und insgesamt eine hohe Wertschätzung des Rechts: Gott will das Recht, ja mehr noch „Gott schafft Recht und Gerechtigkeit“ (Psalm 103,6). Schon in der biblischen Tradition wird Recht so verstanden, dass es einen Raum zum guten Leben schaffen soll und schafft. Die Überlegung, dass „wer wenig im Leben hat, viel Recht bekommen soll“ (Helmut Simon) ist ein Leitmotiv bereits biblischer Rechtsvorstellungen und bleibende Aufgabe bis heute. Es ist nicht überzeugend, oftmals sogar gefährlich über die angebliche rechtliche Regelungs“wut“ der Politik, insbesondere des EU-Parlaments zu schimpfen, ganz im Gegenteil in einer immer komplexer werdenden Welt braucht es ein immer differenzierteres Recht und seine Durchsetzung, damit alle Menschen gut leben können.

Es gilt politisch, zivilgesellschaftlich und persönlich Verantwortung für das Recht zu übernehmen, allen voran für die Menschenrechte und das Grundgesetz. „Der Rechtsstaat braucht keine Liebe, sondern nüchterne Taten einer entschlossenen Verantwortlichkeit“, schrieb 1938 der Theologe Karl Barth als scharfer Kritiker am nationalsozialistischen Totalitarismus. Zu diesen „nüchternen Taten“ zählt ein verantwortliches Wählen der Regierungen, zählt der Beitrag der Kirchen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, zählt die öffentliche Kritik, wenn ein Grundrecht – wie das auf Asyl – ausgehöhlt wird oder wenn sich scheinbar rechtsfreie Räume wie durch die Digitalisierung auftun. Es braucht aber auch das beharrliche Engagement, die Menschenwürde zu schützen und damit den Antisemitismus zu bekämpfen.  

Für jüdische und christliche Gemeinschaften gehört zum Umgang mit ihrer Tradition die Einsicht, dass wer Gottes Gebote und mit ihnen die Würde des Menschen hüten will, sie stets von Neuem auslegen und aktualisieren muss, ja auch das Denken, Leben und Handeln der eigenen religiösen Gemeinschaften reformieren. Auch die Artikel des Grundgesetzes werden laufend von Neuem ausgelegt und manchmal gibt dieser weltliche Wandel Impulse zur innerkirchlichen Erneuerung, wie zur Zeit im Respekt gegenüber Menschen, die ihr Geschlecht nicht auf eine der Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ festlegen (vgl.: https://www.gender-ekd.de).

Die Verantwortung, von der die Präambel spricht, ist auch darauf ausgerichtet, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. In diesem Sinne baucht es viele nüchterne Taten, aber auch den Mut und die Bereitschaft, innovativ zu denken und nicht zuletzt leidenschaftliches Engagement für ein gutes Recht.

Die Bevollmächtigten OLKR Kerstin Gäfgen-Track und OLKR Andrea Radtke im Newsletter der Konföderation ev. Kirchen in Nds., Mai 2019