Mit dem Blick voller Tränen Engel sehen

Nachricht 05. April 2022

Die Bevollmächtigten OLKR'in Kerstin Gäfgen-Track und OLKR'in Andrea Radtke schreiben im Editorial des April-Newsletters:

Sehr geehrte Damen und Herren,

sie war eine couragierte Christin, die sich in der Friedensbewegung, gerade in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts stark engagierte gegen die atomare Abschreckung und für einen Frieden mit immer weniger Waffen: Dorothee Sölle. Sie war eine unkonventionelle Theologin, die auch Gedichte schrieb, um in Worte zu fassen, was eigentlich unfassbar ist: Gott und die Menschen.

„Manche von uns sind so verzweifelt
daß sie noch nie einen engel gesehen haben
sie leben ohne daß jemand sie fragt
frau warum weinst du
sie glauben dir eine geschichte nur halb
und bleiben allein beim weinen
               gott bitte schick einen engel
               zu fragen warum weinst du
               schicke eine von uns zu fragen warum
               damit wir alle nicht allein bleiben
               vor den gräbern
               wo unsere hoffnungen verscharrt liegen
               und lehr uns klagen
               und lehr uns weinen
               und zeig uns die engel
               die schon am Grab auf uns warten“[1]

Die Bilder der vielen Kriege auf dieser Erde und jetzt gerade die Bilder des Krieges in der Ukraine zeigen das Grauen, die Toten, die Gräber und die in ihnen verscharrten Hoffnungen. Weinen und klagen: den Mut dazu haben und sich eingestehen, all diese Bilder und Berichte sind nur zum Weinen und Klagen, erzählen von der zerstörten Hoffnung auf Frieden. Nicht die Bilder des Krieges aus dem Kopf verdrängen oder gar erst an sich herankommen lassen, nicht gleich in Aktivitäten verfallen, und nicht die Tragweite des Satzes unterschätzen, das Leben gehe weiter. Weinen und klagen aus tiefster Seele.

Mit dem Blick voller Tränen und das Herz schwer von dem erfahren Leid einer oder einem begegnen, der endlich nach dem Grund des Weinens fragt und etwas bewegt. Die Einsamkeit im Leiden kann aufbrechen, sich Luft machen. Die Menschen in der Ukraine und all den anderen Orten des Krieges in der Welt erfahren durch Begegnungen: ich bin nicht allein. Menschen hören ihre Klagen und überlassen sie nicht ihrer Verzweiflung. Gott schickt immer wieder „Engel“, nicht vom Himmel herab, sondern vielleicht zivile Helfer*innen in den vom Krieg zerstörten Orten oder Helfer*innen in anderen Ländern, die die Flüchtlinge aufnehmen. Mit offenen Ohren auf das Weinen hören und es sich zu Herzen gehen lassen. Menschen nicht allein lassen, zu ihnen gehen.

Mit dem Blick voller Tränen können Menschen an den zahllosen Gräbern dieser Welt Engel sehen mitten im Elend, sei es Gewalt oder Hunger oder beides. Frauen und Männer des Zivilen Friedensdienstes in der Ukraine arbeiten auch während des Krieges für eine friedliche Zivilgesellschaft weiter. „Viele zivilgesellschaftliche Organisationen sind trotz der katastrophalen Lage aktiv und vernetzt. Sie organisieren humanitäre Hilfe, unterstützen Flüchtende, bieten psychosoziale Beratung an und organisieren sogar Hotlines für Eltern von russischen Soldaten, die nach ihren vermissten Söhnen suchen“, erzählt Anja Petz, Sprecherin des Konsortiums Ziviler Friedensdienst. Eine ukrainische Fachkraft berichtet: „Wir sind nun im Westen, in Uzhgorod, und bauen in einer Wohnung ein Hilfs‐ und Beratungszentrum für ehemalige Gefangene und Betroffene von sexualisierter Gewalt auf. Hier soll psychologische Betreuung, Hilfe bei der Grenzüberquerung und humanitäre Nothilfe angeboten werden.“[2]

Mit dem Blick voller Tränen Engel sehen mitten im Elend. „Pakete, Kisten und Tüten werden schnell umgeladen. Ein Karton berührt uns ganz besonders: Er ist gepackt von Schülerinnen und Schülern der Realschule Sindelfingen, geschmückt mit Papierherzchen und beschriftet auf Ukrainisch und Englisch: ›Wir beten für euch‹, ›Ich hoffe, ihr schafft das‹, ›You are not alone‹. Dass wir nicht allein sind, ist uns seit dem ersten Kriegstag bewusst, dieses Gefühl gibt uns unglaublich viel Kraft und Hoffnung in dieser Zeit der ›unendlichen Sonnenfinsternis‹ (ich zitiere mal ›meine‹ Rose Ausländer).“ So erzählt die Literaturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin Oxana Matiychuk in ihrem ukrainischen Tagebuch aus Czernowitz vom Empfang eines Hilfstransportes.[3]

Mit dem Blick voller Tränen Engel sehen, weil Ostern ist. „Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den anderen zu Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte. Und die sprachen zu ihr: „Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herren weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ (Johannes 20,11-13) Plötzlich sagt eine Gestalt am Grab: „Maria“. In diesem Moment entdeckt Maria den lebendigen Christus.

Mit dem Blick voller Tränen den anderen sehen, in ihr oder ihm einen Engel, vielleicht sogar den lebendigen Christus entdecken. Den Blick zu heben, in allen Lebenslagen angesprochen zu werden und die Erfahrung, dass es ein engelsgleiches Mehr an Menschlichkeit gibt zwischen Himmel und Erde, das wünschen wir Ihnen. Dann kann auch an den Gräbern schon die Hoffnung auf Frieden warten.

Ein gesegnetes Osterfest Ihnen und Ihren Familien

Ihre

Kerstin Gäfgen-Track und Andrea Radtke
Die Bevollmächtigten Kerstin Gäfgen-Track und Andrea Radtke

P.S. Karfreitag und Ostern, Tod und Auferstehungshoffnung liegen nah beieinander. Die traditionellen farbenfrohen ukrainischen Ostereier bezeugen auch das Ineinander von Karfreitag und Ostern, Krieg und Frieden: das Schwarz für Tod, Schmerz und Trauer ist auch zu Ostern präsent, an dem Fest, das den Sieg des Lebens im leuchtenden Rot, Gelb, Grün preist.


[1] Auszug aus: Dorothee Sölle, Johannes 20 vers 13, ©Wolfgang Fietkau Verlag, in: Dorothee Sölle, Poesie als Gebet. Eine Biografie in Gedichten, Berlin 2019, S. 41.

Traditionelle Ostereier in der Ukraine; Foto: Alisa Mizikar / pixabay.com
Foto (Ausschnitt): Alisa Mizikar / pixabay.com