Vielfalt erleben

Nachricht 26. Oktober 2021
Die Veranstalterinnen (v.l.): Dr. Andrea Schrimm-Heins, Hella Mahler, Ulrike Koertge und Susanne Paul; Foto: Bärbel Romey

Wie Begegnung mit dem* Anderen unsere Haltung verändert

Veranstaltung der LAG Frauen- und Gleichstellungsarbeit ev. Kirchen in Niedersachsen unter Beteiligung der Evangelischen Frauenarbeit Oldenburg und der EEB Niedersachsen.

am 17. September 2021 in Hannover

In komplexen Gesellschaften gehört es zum Alltag, mit Menschen in Kontakt zu kommen, deren Weise zu leben manchmal fremd erscheint. Das Fremde kann Neugier, aber auch Ängste auslösen (…). Der Umgang mit Vielfalt ist eine der zentralen Herausforderungen, wenn es darum geht, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu sichern und für ihre Zukunftsfähigkeit zu sorgen (…). Deshalb ist es notwendig, sich und andere für Unterschiede, Differenzen und für daraus resultierende Diskriminierungen zu sensibilisieren. In der Auseinandersetzung mit der Thematik und in der persönlichen Begegnung werden wir ermutigt, eigene, oftmals unbewusste, Erwartungen zu hinterfragen oder Klischees und Vorurteile in uns selbst zu entdecken (…).

Bei unserer Veranstaltung wollten wir entdecken, wo in der Vielfalt ein besonders großer Reichtum liegt. Neben einem theoretischen Zugang zu Geschlechtlichkeit und Vielfalt und einer sozialpsychologischen Untersuchung über die Angst vor dem Fremden oder die Fremden als Bereicherung wurden am Beispiel des transkulturellen und interreligiösen Lernhauses der Frauen die Möglichkeiten einer Bereicherung von Begegnung auf Augenhöhe vorgestellt.

Geschlecht im Fokus von Vielfalt und Differenz

Im ersten Vortrag von Ruth Heß, die Theologische Studienleiterin im Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Hannover ist, ging es um das Thema „Geschlecht im Fokus von Vielfalt und Differenz“. Ruth Heß interpretiert den Begriff Geschlecht als Geschlechtskosmos, unter dem die Bereiche Körper, Identität, Rolle, Sexualität und Reproduktion subsumiert werden. Anhand der Gender- und Feminismusdebatte bis heute wurde verdeutlicht, dass Gender und Feminismus nur im Plural zu denken sind und einem ständigen Diskurs unterliegen. Das System Geschlechtlichkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert von der Androzentrik über den Feminismus zu Gender und dann zu Queer (…).

In Bezug auf die theologische Perspektive wurde die Dynamik der geschlechtlichen Vielfalt innerhalb des biblischen Kanons zum Tragen gebracht von der Schöpfungsgeschichte bis hin zum Galaterbrief, in dem die Identität des Menschen und sein Verhältnis zu Gott sich nicht mehr nur auf das Geschlecht, sondern auch auf weitere Zuschreibungen bezieht. Die Auseinandersetzung, ja gar der Konflikt um die Geschlechtlichkeit trägt zur Vielfältigkeit bei, während eine Eindeutigkeit keinerlei Fragen mehr zuließe und Stillstand bedeuten würde. Dieses Potenzial gilt es immer wieder neu auszuschöpfen.

Die Angst vor dem Fremden oder die Fremden als Bereicherung

Mit dem Thema „Die Angst vor dem Fremden oder die Fremden als Bereicherung“ befasste sich der Sozialpsychologe Prof. Dr. Ulrich Wagner, Marburg. Er ordnete die Bundesrepublik Deutschland als divers ein, weil aktuell 25 % der Einwohnerinnen und Einwohner Menschen mit Migrationsgeschichte sind. Dieser Reichtum wird nicht ausgeschöpft, obwohl aus dem Bereich Organisationsmanagement bekannt ist, dass Diversität die Komplexität des Denkens erhöht, die Qualität der Gruppenentscheidungen erhöht, die Teamleistungen verbessert, das demokratische Engagement erhöht und Vorurteile reduziert (…). Durch Zuwanderung ist eine Verbesserung der ökonomischen Entwicklung nachweisbar, das sollten wir konstruktiv gestalten.

Gegen all diese Argumente kann aus fremdenfeindlichen Motiven auch negativ argumentiert werden. Aus Befragungen im Jahr 2020 ergibt sich laut Wagner eine fremdenfeindliche Einstellung bei ca. 30 % der Einwohner und Einwohnerinnen in Deutschland. Die Angst vor den Fremden resultiert aus dem (un)bewussten Wunsch nach einer klaren Gruppenzugehörigkeit, die für die Einzelne oder den Einzelnen systemrelevant ist. Menschen streben nach positiver Identität. Dabei wird diese Gruppenzugehörigkeit konstruiert und ist stark beeinflussbar. Die Folgen sind gesellschaftliche Spannungen, Rechtfertigungsdruck, Diskriminierung, Terrorismus und ungenutzte Ressourcen.

Ängste und Vorurteile können abgebaut werden, wenn Menschen auf Augenhöhe miteinander in Kontakt treten oder ein gemeinsames Ziel verfolgen. Kontakte reduzieren die Angst, fördern die Empathie für andere, helfen Wissen zu vermehren und verringern die Provinzialisierung (…).

Der Reichtum der Vielfalt im Dialog

Mit dem „Transkulturellen und interreligiösen Lernhaus für Frauen“ stellte Irene Pabst vom Frauenwerk der Nordkirche in Hamburg ein Projekt zur Ausbildung von Dialog-Multiplikatorinnen als dessen Projektkoordinatorin vor, das 2005 (gefördert durch das BMFSF) gestartet ist und sich in Folgeprojekten deutschlandweit ausgebreitet hat. Unter dem Motto „Vielfalt entdecken – Dialog erleben – Zusammenleben gestalten“ werden dazu Kurse für Frauen angeboten, in denen die Frauen lernen, mit Unterschieden konstruktiv umzugehen. Gegen die zunehmende Spaltung in der Gesellschaft werden Frauen als Schlüsselfiguren zu Brückenbauerinnen mit transkultureller und interreligiöser Kompetenz qualifiziert und erhalten zum Abschluss ein Zertifikat (…).

Die Kurse sind offen für Frauen aus allen Kulturen und Religionen, ebenso für nicht religiöse Frauen (…). In einer vertrauensvollen Atmosphäre gehen die Frauen respektvoll und wertschätzend miteinander um und können später die erworbenen Erkenntnisse und Erfahrungen in der Schule im Unterricht oder in der Elternarbeit einsetzen. Andere nutzen den Kurs für ihr Engagement in der Familie, mit Nachbarn oder beim Kirchenasyl.

Transkulturelles und interreligiöses Lernhaus der Frauen in Niedersachsen

Aufgrund dieser positiven Erfahrungen haben die Evangelische Erwachsenenbildung Niedersachsen und das Frauenwerk im Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers gemeinsam das grundlegende Konzept übernommen und die Lernhäuser nach Niedersachsen geholt. Pastorin Susanne Sander, aus der EEB-Landesgeschäftsstelle in Hannover, berichtete, dass dafür im Mai 2021 eine Projektstelle geschaffen wurde und das Gesamtprojekt durch zahlreiche Förderer ermöglicht wird.  Die ersten beiden Lernhäuser für Frauen werden seit Mai 2021 in Hannover und seit September 2021 in Göttingen angeboten. Das dritte Lernhaus für Frauen wird voraussichtlich ab September 2022 in Osnabrück beginnen. Bis 2024 sind insgesamt fünf Kursangebote geplant (…).

Die inhaltlichen Schwerpunkte der Lernhäuser für Frauen sind die Vermittlung von Wertvorstellungen unterschiedlicher Kulturen und Religionen, das Entwickeln einer Dialoghaltung und das Erarbeiten von Handlungsstrategien zu Konfliktlösungen. Das besondere Vertrauen der Frauen untereinander ermöglicht, dass brisante Themen im Dialog und im geschützten Raum behandelt werden können. Als Fernziel wird dieses Bildungsangebot als ein wichtiges Angebot im schulischen Bereich eingeordnet: So könnten Frauen als „Kulturmittlerinnen“ an Schulen eingesetzt werden.

Workshops zur Vertiefung

Bei den anschließenden Workshops zeigte sich, dass die Lernhäuser für Frauen auf größtes Interesse bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gestoßen sind. Die Lernhäuser hätten einen Mehrwert für eine offene, vielfältige Gesellschaft (…). Lernhäuser für Männer sind genauso wichtig wie die für Frauen, war das Fazit der Beteiligten.

Beim Workshop zur geschlechtlichen Vielfalt wurde deutlich, dass es nicht die Frau und den Mann gibt. Es sei auch nicht unbedingt richtig, immer den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, sondern es werde immer wichtiger, Unterschiede wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Als Beispiel wurden Filmprojekte angeführt, bei denen unterschiedliche Geschlechtsidentitäten zur Sprache kämen und indirekte Begegnung ermöglicht würde.

Im dritten Workshop wurde darüber diskutiert, dass Identität zwar per Zuschreibung geschehe, aber nicht wirklich konstant sei und somit auch jeder Mensch seinen Platz in der Gesellschaft selbst finden könnte. Problematisch sei, wenn die Mehrheitsgesellschaft die Normen vorgebe. So sei bei uns eine Person integriert, die unsere Sprache spricht, eine Wohnung und einen Arbeitsplatz vorweisen kann. – Echte Integration dagegen bedeute, dass sowohl die Werte und Normen der Aufnahmegesellschaft als auch die Werte und Normen der Herkunftsgesellschaft auf Augenhöhe Geltung finden

Hella Mahler (gekürzter Beitrag aus dem Jahrbuch der EEB Niedersachsen 2021)