Wege zu Frieden und Gerechtigkeit

Nachricht 15. November 2021

Die Bevollmächtigten OLKR Kerstin Gäfgen-Track und OLKR Andrea Radtke schreiben im Editorial des November-Newsletters:

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Rede von Navid Kermani beim Festakt „75 Jahre Niedersachsen“ am 1. November hat uns herausgefordert, die eigene Meinung zu überdenken, selbst Position zu beziehen und weiterzudenken. Navid Kermani ist selbst kein Niedersachse, vielmehr überzeugter Europäer und leidenschaftlicher Weltbürger. Er hat darauf verwiesen, dass „die Gründung des Bundeslandes Niedersachsen am 1. November 1946 sich einem ausländischen Militäreinsatz (verdankt) und durch eine Besatzungsmacht (erfolgte).“ [1] Damit war das Leitmotiv gegeben: Krieg und Gewalt, Friedensarbeit und Demokratie, Entwicklungs- und Außenpolitik. Das „politische Ereignis“, das Kermani in den letzten Jahren am meisten mitgenommen hat, wurde präsent: „die Menschen, die sich in Kabul an die abhebenden amerikanischen Flugzeuge klammerten und aus hunderten Metern wie Steine zu Boden fielen“. Der Militäreinsatz auch der Bundeswehr in Afghanistan sei beendet worden und damit sei – leider erwartbar - „das wenige Gute zunichte gemacht, was der westliche Militäreinsatz ermöglicht hat: Frauenrechte, Zugang zu Bildung, freie Presse, die Herausbildung einer Zivilgesellschaft, internationaler Austausch, die Entfaltung von Kunst, Literatur, Musik.“
Weit davon entfernt, ein uneingeschränkter Unterstützer militärischer Interventionen zu sein, fordert Kermani diese jedoch, um eine „faschistoide Ideologie (wie die der Taliban) gewaltsam (zu) bekämpfen“, damit sie sich nicht weiter ausbreiten könne. Er beklagt den „dramatischen Bedeutungsverlust auch der deutschen Außenpolitik“ und wirbt darum, dass sich die Menschen in demokratischen Gesellschaften als „Weltbürger“ verstehen und weltweit Verantwortung übernehmen, auch im eigenen Interesse, aber vor allem im Interesse der von Krieg, Flucht und Gewalt bedrohten und verwundeten Menschen.

Kermanis Worte haben uns in ihrer Eindringlichkeit berührt, und doch können wir seine Bejahung von und seine Forderung nach militärischen Interventionen, um die Ziele von Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu erreichen, nicht teilen. „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein“, ist die feste christliche Überzeugung. Dies bedeutet, dass Gewaltlosigkeit und Diplomatie auch für staatliche Interventionen die erste Option sein müssen, gewaltfreie, zivile Instrumente der Konfliktbearbeitung einen „klaren Vorrang“ haben und Prävention, gerade auch durch Entwicklungspolitik, „die nachhaltigste Form der Friedenssicherung“ ist[2]. Eine vorausschauende Außen- und Entwicklungspolitik, Friedensarbeit und Stärkung der zivilgesellschaftlichen Kräfte in den jeweiligen Ländern sollten ein militärisches Eingreifen - wenn irgend möglich - nicht erforderlich machen. Die Lage in Afghanistan macht dramatisch deutlich, dass jeder militärische Einsatz von noch mehr und dauerhaftem zivilem Engagement zur Förderung von Demokratie und Entwicklung begleitet  und auch mit allen Beteiligten im Vorhinein eine Verständigung über die Ziele des Einsatzes herbeigeführt sein muss. Wenn ein militärischer Einsatz stattfindet, muss er am Ende auch so lange durchgeführt werden, dass eine stabile rechtsstaatlich-demokratische Situation als gesichert gelten kann. In diesem Sinne fordert die Evangelische Kirche in Deutschland seit langem und jetzt auch von der neuen Bundesregierung, „die Priorisierung von Haushaltsmitteln des Bundesetats – mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes – für entwicklungspolitische Maßnahmen, für die Bekämpfung von Gewaltursachen, für Krisenprävention, für gewaltfreie Konfliktbearbeitung und für Nachsorge und zivile Aufbauarbeit in Krisenregionen.“

Ein Teil der Präventionsarbeit ist die Entwicklungszusammenarbeit. Eine Vereinbarung der Vereinten Nationen von 1972 setzte das Ziel für „Geberländer“, 07% des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden. Im Jahr 2020 hat die Bundesrepublik dieses Ziel erreicht. Welthungerhilfe und Terre des Hommes urteilen in ihrem Kompass 2021 zur Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik „Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sowie humanitäre Hilfe haben in den letzten Jahren einen spürbaren Bedeutungszuwachs erfahren. Ein klares Zeichen dafür ist die stärkere finanzielle Ausstattung, mit der die Bundesregierung das 0,7%- Ziel erreicht hat.“[3] Das ist eine Ermutigung dafür, die 2% Zielmarke zu erreichen.

Im November, der Zeit des Gedenkens an insbesondere die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Diktatur am 9. November und aller Opfer von Diktatur und Krieg am Volkstrauertag, begehen die evangelischen Landeskirchen auch den Buß- und Bettag in diesem Jahr am 17. November. Es ist der Tag, sowohl die persönliche Schuld im Leben als auch die kirchliche Schuld, die mit zu Gewalt und Kriegen geführt hat, zu bekennen und Versöhnung zu suchen. Wir tun dies im Gebet im Vertrauen darauf, dass Gott uns neue Wege zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung eröffnet. Elie Wiesel hat es einmal so gesagt: Das Gebet lehrt mich, „leben zu lernen in der Erwartung“[4]. Beten um die Zuversicht, dass „Schwerter zu Pflugscharen“ werden und wir nicht mehr lernen, Krieg zu führen (Micha 4,3). Im Vertrauen auf Gott „Weltbürgerinnen und Weltbürger“ sein, um mutig alles für Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu tun, was in unserer Macht steht.

Ihre
Kerstin Gäfgen-Track und Andrea Radtke
Die Bevollmächtigten Kerstin Gäfgen-Track und Andrea Radtke


[1] Die Festrede von Schriftsteller Dr. Navid Kermani am 1.November 2021 in Hannover als PDF (https://www.niedersachsen.de/download/176064). Auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=KjzUNQ5G-Nw&t=1s . Alle Redebeiträge: https://www.niedersachsen.de/75-Jahre-Niedersachsen/75-jahre-niedersachsen-festakt-205489.html.

[2] Vgl. Kundgebung „Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens“ der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 6. Tagung, Dresden, den 13. November 2019, https://www.ekd.de/kundgebung-ekd-synode-frieden-2019-51648.htm.

[4] Vgl. Elie Wiesel, Die Weisheit des Talmud. Geschichten und Portraits, Freiburg, Basel, Wien 1992, 44.