Protest und Bildung gegen die Erziehung zu Rassisten

Nachricht 22. Juni 2020
OLKR Dr. Kerstin Gäfgen-Track, Bevollmächtigte

Die Bevollmächtigte OLKR Kerstin Gäfgen-Track schreibt im Juni-Newsletter der Konföderation aus eigener Erfahrung zum Rassismus:

Sehr geehrte Damen und Herren,

es wird gegenwärtig auf dem Hintergrund des Todes von George Floyd und der weltweiten Proteste gegen rassistisch geprägte (Polizei)gewalt darüber diskutiert, ob es auch bei uns Alltagsrassismus, sogar Gewalt gegenüber Menschen nicht weißer Hautfarbe gibt. Es gibt sie, keine Frage. Ich habe sie selbst schon oft hautnah erlebt, und ich bin mir leider sicher, ich werde sie wieder erleben. Zugleich mache ich als Frau weißer Hautfarbe normalerweise persönlich die gegenteilige Erfahrung, in der Öffentlichkeit gerade nicht diskriminiert oder gar angegriffen zu werden.

Als junge Frau habe ich in den 80ziger Jahren mit Stipendiaten und Gastdozenten sowie deren Familien aus überseeischen Partnerkirchen zusammengearbeitet: Afrikaner, Asiaten, Ozeaner, Lateinamerikaner. Damals war die deutsche Gesellschaft keineswegs von so vielen people of color geprägt wie heute. Sie, wir fielen in der scheinbaren Idylle Frankens auf. Zug oder U-Bahn-Fahrten habe ich nach einer Weile gefürchtet. Vor allem wenn ich gemeinsam mit nur einem farbigen Mann unterwegs war, habe ich üble Anmache und verbale Angriffe von weißen Männern erfahren: sexistisch-rassistisch, manchmal subtil, oft knallhart. Es schien ausgemacht, dass wir ein Paar waren: eine weiße Frau und ein farbiger Mann; ein frontaler Angriff auf die Männlichkeit von Männern weißer Hautfarbe. „Madla, so hässlich bist doch gar nicht, dass Dich mit so anem aus dem Urwald abgibst“, war noch eine milde Variante. Das Ausgezogen Werden mit Blicken, der falsche mitleidige ebenso wie der verachtende Blick kamen dazu. Latente Gewalt lag nicht selten schnell in der Luft. Manchmal habe ich mich voller Zorn mit Worten und schneidender Arroganz gewehrt, manchmal entsetzt geschwiegen, auch weil ich fürchtete, die Stipendiaten und Dozenten würden dann körperlich angriffen. Dazu wäre es in der Südkurve des 1. FCN beinahe gekommen, als wir ein Fußballspiel besuchten und auch ein Tor der Auswärtsmannschaft bejubelten. Wenn wir dann ausgestiegen oder aus dem Stadion raus waren, schämte ich mich so sehr, dass ich den Stipendiaten nicht in die Augen zu blicken wagte. Ich musste dann allen meinen Mut zusammennehmen, was mir manchmal erst nach Tagen gelang, um mit den Menschen, mit denen ich ein Stück ihres Lebens teilen durfte, darüber zu sprechen: meine Aufgabe war es ja, mit ihnen Übersetzungen zum Verständnis des deutschen Alltags und Universitätssystems zu suchen. Diese Begegnungen haben mich tief geprägt, sie haben mich menschlich und theologisch herausgefordert und ohne diese Begegnungen wäre mein Leben sehr viel ärmer.

Nie würde ich es wagen, meine Erfahrungen von geteiltem Rassismus mit den ungleich brutaleren, ja tödlichen Erfahrungen eines George Floyd auch nur annähernd gleichzustellen. Die Brutalität, einen Menschen allein um des Gefühls männlich-weißer Dominanz willen unter dem eiskalten steinernen Druck eines Knies sterben zu lassen, weckt wieder den bitteren, vergifteten Geschmack des Rassismus auf meiner Zunge und die Verzweiflung darüber, wie wenig es auch uns Christen über Jahrtausende gelingt, die Sünde des Rassismus, auch des christlichen, aus den Köpfen, Körpern und Herzen von Menschen zu verbannen. Als Rassistin oder als Rassist wird keine und keiner geboren, dazu wird jede und jeder einzelne erzogen und gemacht. Dies ist im wissenschaftlichen Diskurs endlich common sense, was aber nicht die Jahrtausende alte Frage löst, wie eine solche Erziehung zum Rassismus oder Bildung zum Rassisten endlich an ein Ende kommt. Die Entscheidung darüber, ob die uralte Sehnsucht danach, dass die Würde und der Schutz vor Gewalt aller Menschen unantastbar ist, immer stärker die Wirklichkeit menschlichen Zusammenlebens prägt, fällt nicht in Seminaren an der Uni, sondern im Alltag von Familien, in peer-groups, an Stammtischen, auf der Straße.

Ich verstehe den verzweifelten, radikalen und immer neuen Protest so vieler people of color, gerade schwarzer Afroamerikaner. Um seiner Selbstachtung und Würde ist es unverzichtbar, dass dieser Protest gewaltfrei ist – darin liegt seine Stärke. So hat er eine Chance, etwas zu ändern, auch wenn heute noch nicht absehbar ist, wie lange noch wir den Protest, die Bildungs- und Erziehungsarbeit, die Pflege der Erinnerungskultur brauchen, nicht alles weichspülend und historisierend, denn dann verweht der Rassismus – gerade nicht - vom Wind*, sondern für den unermüdlichen Kampf um Gerechtigkeit von Menschen , egal welcher Hautfarbe, eines Atticus Finch, der die „Nachtigall stört“** in einer vermeintlichen gesellschaftlichen Idylle. Deshalb: „Your silence will not protect you.“ – Euer Schweigen wird Euch nicht schützen. (Audre Lorde, afroamerikanische Schriftstellerin und Bürgerrechtsaktivistin)

Die Aufgabe, nicht zu schweigen und dem Rassismus wirksam entgegenzutreten und ihm den Nährboden zu entziehen, Vorurteile und verkehrtes Denken zu entlarven, ist eine kirchliche wie gesellschaftliche Aufgabe, der wir uns dauerhaft zu stellen haben. Ich bin dankbar für alle, die sich mit Leidenschaft für die Gerechtigkeit, die Würde und den Schutz aller Menschen einsetzen: lives matter, indeed.

Ihre
Kerstin Gäfgen-Track

* Margareth Mitchell, Vom Winde verweht, 1936
** Harper Lee, Wer die Nachtigall stört, 1960