Erinnern am 27. Janaur 2020 - Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Nachricht 27. Januar 2020
Bevollmächtigte OLKR Dr. Kerstin Gäfgen-Track und OLKR Andrea Radtke; Fotos: J. Schulze, St. Heinze.

Die Bevollmächtigten OLKR Kerstin Gäfgen-Track und OLKR Andrea Radtke schreiben zum 27. Januar 2020:

Zwei Tonnen Frauenhaar gehören zu den Spuren, die im KZ Auschwitz-Birkenau an die Ermordeten erinnern. Zwei Tonnen Haar ist eine dieser unfassbaren Zahlen, die von den Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft erzählen, die meisten von ihnen Jüdinnen und Juden, andere Sinti oder Roma, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, politische Gegner der Nationalsozialisten, sowjetische Kriegsgefangene, Menschen aus 20 Nationen. Sie wurden verfolgt, gequält, vergast, erschossen oder verhungerten. Jedes Kind, jede Frau, jeder Mann ein Mensch, eine ganze Welt für sich. »dein aschenes Haar Sulamith«, erinnert der Dichter Paul Celan in seiner »Todesfuge«, »… dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken …«.

Zur »Verwertung der abgeschnittenen Haare« befahl Richard Glücks, Inspekteur der Konzentrationslager im SS-Führungs-Hauptquartier, in einem Rundschreiben vom August 1942:
»Aus ausgekämmten und abgeschnittenen Frauenhaaren werden Haargarnfüßlinge für U-Boot-Besatzungen und Haarfilzstrümpfe für die Reichsbahn angefertigt« - »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland« (Paul Celan).

Einer der Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ist Nachum Rotenberg. Von Auschwitz wurde er in ein KZ-Außenlager in Hannover Stöcken verfrachtet. Rotenberg erinnert sich an die Zeit als Zwangsarbeiter in Hannover: »Wir waren billige Arbeitskräfte - keine Kleidung, kein Essen, nichts. Ich habe dort als Feger gearbeitet… Ein Deutscher in Zivil hat immer wieder mit einem Schlauch auf uns eingeprügelt, in den ein Draht eingezogen war.« - Rotenberg erinnert sich auch an einen deutschen Mitarbeiter, der ihm Brot zusteckte.[1]

Vor 75 Jahren befreiten Soldaten der Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Mehr als 230 sowjetische Soldaten starben bei der Befreiung des Gebiets um das Konzentrationslager.[2]  Auch an sie sei in diesen Tagen erinnert.

»Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.« (5. Mose 4,9) Was heißt »nicht vergessen«? Wir erinnern an die Toten, gedenken der Opfer und würdigen die Überlebenden, wenn wir das andauernde Leid der Überlebenden in erster, zweiter, dritter und den folgenden Generationen wahrnehmen. Zum »Nicht Vergessen« gehört für uns auch, die Augen und Ohren nicht zu verschließen vor dem, was unsere Vorfahren taten, auch die, die in den evangelischen Kirchen damals in leitenden Positionen waren und sich nicht für Menschen jüdischen Glaubens eingesetzt haben und sich auch nicht zu den Christen »nicht arischer« Herkunft bekannt haben. Sehr schmerzhaft ist für uns zu erkennen, wie menschenverachtend aus eigener innerer Überzeugung auch evangelische Christinnen und Christen ihre Judenfeindschaft im bürgerlichen Alltag lebten. Nach einer Anfrage von angehenden Pastoren, ob das Predigerseminar Loccum weiterhin Fleisch bei einem jüdischen Metzger beziehen solle, verweist  Landesbischof Marahrens in einem Brief am 27. Dezember 1930 an die Hausdame des Predigerseminars auf »die Schwierigkeiten, die einem evangelischen Kloster aus der Tatsache solcher Bezugsquelle in unserer nationalsozialistischen Vorbereitung des dritten Reiches erwachsen«.[3]

Einen »Arierparagraphen«, der es getauften Juden verbot, als Pastoren zu arbeiten, führte die Hannoversche Landeskirche nicht ein, stattdessen jedoch im März 1937 eine Verordnung, die es ermöglichte, Pastoren zwangsweise in den Ruhestand zu versetzen. Mit diesem Gesetz wurden als Christen mit jüdischer Herkunft Pfarrer Bruno Benfey, Göttingen und Paul Leo, Osnabrück in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Vikar Otto Schwannecke wurde nach Ablegen des Zweiten Examens im Oktober 1936 mitgeteilt, auf eine Anstellung bestehe in absehbarer Zeit keinerlei Aussicht. Als 1939 die Finanzabteilung drohte, die Gehälter zweier Pastoren, die nach nationalsozialistischer Ideologie keine »Arier« waren, zu sperren, ließen sich die beiden bedrohten Pfarrer Gustav Oehlert, Rinteln, und Rudolf Gurland, Meine, in den einstweiligen Ruhestand versetzen.[4] 

Die biblische Aufforderung »Erinnere dich!« verbindet für uns Vergangenes mit Gegenwart und Zukunft. Erinnern, was war, wahrnehmen, was ist und gestalten, was in Zukunft sein wird.

So nehmen wir heute zunehmend Hassreden, Schmähungen und Gewalt gegen Menschen wahr, gegen Jüdinnen und Juden, gegen Menschen, die keine weiße Hautfarbe haben oder sich politisch für Frauenrechte, Respekt und Toleranz in einer multikulturell geprägten Gesellschaft engagieren oder schlicht in städtischen Behörden, bei Polizei und Feuerwehr ihren Dienst tun. Aus menschenverachtenden Worten ist längst körperliche Gewalt, gar Mord geworden, wie 2019 in Wolfhagen bei Kassel und in Halle.

Ein Leben in Demokratie, Freiheit und einem guten Miteinander gelingt nicht von selbst, sondern braucht täglich den Einsatz möglichst vieler dafür. Wir dürfen nicht aufhören, die Täterinnen und Täter rechtsextremer Hasskriminalität vor Gericht zu bringen. Wir dürfen nicht müde werden, unsere Stimmen zu erheben gegen Antisemitismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit - am Arbeitsplatz, beim Familientreffen, in der Kirche, beim Grillfest, auf dem Sportplatz, in den sozialen Medien, im Leserbrief. Es braucht den Mut und die Einsicht, weiter zur Schuldgeschichte auch der evangelischen Kirchen im sog. Dritten Reich  zu stehen, immer wieder die Schuld zu bekennen und aus der Erinnerung heraus, alles auch als Kirche dafür zu tun, dass Menschenverachtung, Gewalt und Mord weder geistig legitimiert noch in Taten konkret werden.


[1] Vgl. Auschwitz-Überlebender: «Ich bin einer der Letzten». Artikel am 17.1.2020 von Sara Lemel, dpa, https://www.stimme.de/deutschland-welt/politik/dw/Auschwitz-UEberlebender-Ich-bin-einer-der-Letzten;art295,4309054

[2] Vgl. die „Basic information on Auschwitz“ auf der Internetseite „der Gedenkstätte und des Museums Auschwitz“, http://auschwitz.org/en/press/basic-information-on-auschwitz/.

[3] Vgl. Gerhard Lindemann, Christen jüdischer Herkunft als Gegenstand hannoverscher Kirchenpolitik im NS-Staat, in: Bewahren ohne Bekennen?, hrsg. von Heinrich Grosse, Hans Otte, Joachim Perls, Hannover 1996, 329–373. Zitat aus dem Brief Marahrens aus: Jan Olaf Rüttgardt, Das Kloster Loccum im Dritten Reich, in: JGNKG (85) 1987, 197–222, hier 207.

[4] Vgl. Hans-Christian Brandy, Gustav Oehlert und Paul Leo. Zwei Pastoren jüdischer Herkunft in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, in: Bewahren ohne Bekennen?, 375–427.

Die Bevollmächtigten Kerstin Gäfgen-Track und Andrea Radtke