Demokratie, Bildung und Religion

Nachricht 05. September 2020
Bevollmächtigte OLKR Dr. Kerstin Gäfgen-Track und OLKR Andrea Radtke; Fotos: J. Schulze, St. Heinze.

Die Bevollmächtigten OLKR Kerstin Gäfgen-Track und OLKR Andrea Radtke schreiben im August/September-Newsletter der Konföderation:

Sehr geehrte Damen und Herren,

das neue Schuljahr hat begonnen begleitet von der Sorge, wie Hygieneverordnungen eingehalten werden können, wie Schule organisiert werden muss, um große Infektionsketten im Schulbetrieb zu vermeiden. Eine große Herausforderung für die Lehrerinnen und Lehrer ebenso wie für die Schülerinnen und Schüler, für viele verstärkt durch die Sorge, selbst an Covid-19 zu erkranken oder eine Infektion auf ältere oder chronisch kranke Familienangehörige und Freund*innen zu übertragen. Dazu kommt die ganz andere Sorge, dass viele Schüler*innen im letzten, bereits von Corona geprägten Schuljahr, viel Unterrichtsstoff versäumt haben, den sie aber für die Weiterarbeit brauchen, nicht zuletzt für die Schulabschlüsse. Erste Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu 15% der Generation Corona keinen Schulabschluss schaffen könnten. Wir wissen darum, dass die Lehrkräfte viel versuchen werden, möglichst allen ihren Schüler*innen einen Abschluss zu ermöglichen. Es wird viel darauf ankommen, ob es gelingt, unter Corona-Bedingungen gut Schule zu machen. Wir werden in den nächsten Wochen weiter das Gespräch mit Lehrkräften und gerade den Mitgliedern von Schulleitungen suchen, um zu hören und uns dann für eine gezielte gesellschaftliche und politische Unterstützung von Schule einzusetzen.

Die Bilder von den Stufen des Reichstagsgebäudes vom vergangenen Wochenende führen eindringlich vor Augen, wie bleibend wichtig demokratiebezogene Bildung in Schule ist. Es gilt die Bedeutung und den Wert demokratischer Gesellschaftsformen im Unterricht zu vermitteln und für einen verantwortlichen Umgang auch mit dem Recht auf Meinungsfreiheit zu streiten. Die Wertschätzung der Demokratie, die Identifikation mit ihr und der Einsatz für die Bewahrung demokratischer Strukturen ist kein Selbstläufer mehr, sondern es kommt auf eine gelingende und prägende Erziehung zu demokratischen Grundüberzeugungen an. Wir sehen in diesen Wochen auch wie Menschen in Belarus für demokratische Rechte kämpfen. Friedlich, gewaltfrei, heute und morgen von Neuem, entschlossen, ihr Ziel einer demokratischen Wahl zu erreichen, auch wenn Demonstrierende in gepanzerten Polizeiwagen abgeführt werden. Wir sehen mit Erschrecken und Entsetzen die Bilder aus dem Libanon, lesen in der Zeitung, wie „Mehrung“ des „persönlichen Reichtums“, „Klientelismus, Vetternwirtschaft, Korruption und damit verbundene Straferlasse“ [1]. ein Land an den Rand des Ruins treiben. Wir erfahren zugleich vom bürgerschaftlichen Engagement der Menschen für Reformen des politischen und wirtschaftlichen Systems, aber auch ganz konkret für den Wiederaufbau der zerstörten Viertel von Beirut.

Die Situation der vielen syrischen Flüchtlinge im Libanon (kein Land der Welt hat im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl mehr Flüchtlinge aufgenommen) wird gegenwärtig immer prekärer, es fehlt insbesondere an Lebensmitteln und Hygieneartikeln (zum Schutz vor Covid-19). Die hannoversche und die reformierte Kirche versuchen gezielt Flüchtlingskindern und deren Familien, die evangelische Schulen im Libanon besuchen, zu helfen. Es ist gerade für die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Libanon verheerend, dass zeitweise Schulen geschlossen werden, wenn der Staat die Gehälter nicht mehr zahlen kann oder an privaten Schulen Eltern die Schulgebühren nicht mehr aufbringen können.

Die Gefährdung, Aushöhlung oder das nicht Vorhandensein demokratischer und rechtstaatlicher Strukturen zeigt, wie wichtig der Einsatz für die Demokratie weltweit, angefangen in unserem eigenen Land ist. Demokratie ist anstrengend, wenn Stunden, ja tagelang um ein einheitliches Bußgeld bei Verletzung einer Verordnung zur Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Verkehr gerungen wird. Es kann durchaus, gerade für Jugendliche frustrierend sein zu erleben, wie schleppend der Klimaschutz vorangetrieben wird oder wie langsam der Schutz der Biodiversität. Und dennoch, demokratische Entscheidungsfindungen mit Wahlen, Mehrheiten, Abstimmungen, Gewaltenteilung sind unersetzbar. Ein demokratischer Staat ist kein in sich geschlossener statischer Blick. Schon Schüler*innen können lernen, dass es auch zu ihrer Verantwortung als Bürger*innen gehört, die Demokratie zu bewahren und weiterzuentwickeln. Demokratie ist „schön und anstrengend“ [2] und will von allen Bürger*innen lebenslang gelernt sein.

Beim Lernen fängt das Große im Kleinen an, wenn Schüler*innen ihre Klassensprecher*innen wählen oder andere sich entscheiden, als Teamer*innen Verantwortung für eine Jugendgruppe zu übernehmen. Nicht nur Expert*innen für Bildungsarbeit sind gefordert, Räume in der Schule, im Sportverein, im kirchlichen Leben zu schaffen, so dass junge Menschen sich selbst aktiv beteiligen können und erfahren, wie hart es sein kann, im Ringen um einen Kompromiss Abstriche machen zu müssen von der eigenen Überzeugung, bei schweren Entscheidungen sich selbst nicht sicher zu sein, was der richtige Weg ist und in all dem ihre Selbstwirksamkeit spüren.

Demokratie wird gelernt und eingeübt, im besten Fall „mit brennender Geduld und protestantischer Nüchternheit“ [3], so im EKD-Text „Demokratie, Bildung und Religion: Gesellschaftliche Veränderungen in Freiheit mitgestalten“ (2000). Die EKD-Impulse für die demokratiebezogene Bildungsarbeit in kirchlichen Handlungsfeldern zeigen: Auch wir als Kirchen sind gefordert mit unserer Arbeit in Kindertagesstätten, Schulen, mit Konfirmanden- und Jugendgruppen.

Ihre Kerstin Gäfgen-Track und Andrea Radtke
Die Bevollmächtigten Kerstin Gäfgen-Track und Andrea Radtke


[1] So Rasha Salti, Mein Leben als Kollateralschaden, in: Die Zeit Nr. 35 vom 20.08.2020.

[2] Vgl. EKD-Text 134: Demokratie, Bildung und Religion: Gesellschaftliche Veränderungen in Freiheit mitgestalten. Impulse für die demokratiebezogene Bildungsarbeit in kirchlichen Handlungsfeldern 33. Online: https://www.ekd.de/ekd-texte-134-religioese-bildung-demokratisch-handeln-57846.htm

[3] Ebd.