Es gibt einen Wandel: Rettungskräfte hören heute eher auf Seelsorger

Nachricht 16. November 2017

Interview mit Frank Waterstraat, Leiter des kirchlichen Dientes bei Polizei und Zoll

Warnweste - CC BY-SA 2.0 de / Otto Schraubinger

Am morgigen Freitag (17.11.2017) vor zwei Jahren wurde in Hannover das Länderspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden abgesagt. Fans, Politik und Polizei erlebten eine Nacht im Ausnahmezustand. Mit dabei war Frank Waterstraat. Er ist evangelischer Pastor und leitet seit sieben Jahren den kirchlichen Dienst in Polizei und Zoll der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen. Zuvor arbeitete er unter anderem als Beauftragter für Feuerwehrseelsorge und für Notfallseelsorge der hannoverschen Landeskirche. Isabel Christian sprach mit ihm über den mentalen Umgang mit dem Terror und die Bedeutung der Seelsorge in der Polizei.

Rundblick: Herr Waterstraat, wie sieht der Alltag eines Polizeiseelsorgers aus?

Waterstraat: Den klassischen Tag in der Polizeiseelsorge gibt es eigentlich nicht. Eine Kernaufgabe ist natürlich im Sinne der Seelsorge oder der psychosozialen Unterstützung die Begleitung von Menschen in Situationen, in denen sie beruflich oder privat einen Rat brauchen. Aber ich halte auch sehr viele Vorträge und gebe Unterricht. An der Polizeiakademie und in Polizeidienststellen, vom Kommissariat bis zur Direktion.

Rundblick: Sie sind aber auch bei größeren Einsätzen dabei und fahren häufig als dritte Person im Streifenwagen mit. Kommt die Polizei dafür zu Ihnen oder fragen Sie an?

Waterstraat: Teils, teils. Ich bekomme ja gerade im Bereich Hannover mit, wenn bestimmte Einsätze anstehen. Zum Beispiel die Hagida-Demonstrationen oder ein Fußballspiel von Hannover 96, das als mögliches Risikospiel eingestuft wird. Bei solchen Situationen gehe ich von mir aus auf die Polizei zu und frage, ob ein Platz für mich frei ist. So war es etwa bei dem Länderspiel Deutschland gegen die Niederlande 2015. An diesem Abend konnte ich mit dem heutigen Wolfsburger Polizeichef Olaf Gösmann und seinem Team in seinem Befehlskraftwagen mitfahren.

Rundblick: Diesen Abend beschreiben Sie als einen „Kehrpunkt" in Ihrem Leben und Ihrer Arbeit.

Waterstraat: Das ist wahr, eine solche Stimmung wie an diesem Abend habe ich noch nie in einem Einsatzwagen erlebt. Ich kenne ja die Situation, wenn man mit der Feuerwehr zu einem Einsatz fährt, und es kommt ein Funkspruch, der einen auf das Schlimmste vorbereitet. Als hier allerdings die Absage des Spiels über Funk durchgegeben und angeordnet wurde, jeder müsse auf Eigensicherung achten, da war das etwas Besonderes. Denn wenn etwas passiert wäre, wären es kein Unfall und keine Naturkatastrophe gewesen, sondern ein „Man-made-Desaster“. Ein Ereignis, das Menschen herbeigeführt hätten, um möglichst vielen Menschen massiv zu schaden. Wir hatten ja noch alle die Bilder von den Anschlägen aus Paris im Kopf, die nur wenige Tage vorher passiert waren. Bis zu diesem Funkspruch war es ja nur eine theoretische Möglichkeit. Es passiert in anderen Ländern, aber bei uns hoffentlich nicht. Dieser Gedanke „hoffentlich nicht" war jedoch in dem Moment zu Ende, als die Gefährdung real wurde. In dieser Situation waren die Bilder aus Paris unglaublich nah und dicht. Das war eine neue Form von Eskalation, die ich so nicht kannte und offensichtlich die anderen auf dem Auto auch nicht. Wir haben am Straßenrand gehalten und alle erst mal ganz tief Luft geholt. Und wir hatten die Erkenntnis:  Jetzt sind wir sehr dicht dran, jetzt ist der Terror bei uns. Und möglicherweise sind wir schon mittendrin und müssen reagieren.

Rundblick: Haben Sie das Gefühl, dass Polizisten auf solche Herausforderungen gut vorbereitet sind?

Waterstraat: Ich glaube, dass es in Deutschland zur Zeit des RAF-Terrorismus eine hohe Sensibilität für den Umgang mit terroristisch motivierten Gewalttätern gegeben hat. Aber mit dem Zurückgehen des RAF-Terrorismus ist in der Polizei das Bewusstsein dafür geschwunden, dass es eine Gruppe von Menschen geben könnte, die ganz bewusst töten und verletzen will. Das sieht man etwa an der Bewaffnung. Die Maschinenpistole war aus dem Alltag des Einsatz- und Streifendienstes weitgehend verschwunden. Nach der Zunahme der Terroranschläge in Europa ist allerdings viel passiert. Die Aus- und Fortbildung im Kontext von Amok, Terror und Massengeiselnahme ist wieder wichtiger geworden und auch in der Ausrüstung gab es ein Umdenken.

Rundblick: Glauben Sie, dass die Polizisten auch seelisch dafür gerüstet sind?

Waterstraat: Ich war an einzelnen Fortbildungsmaßnahmen beteiligt und mir ist aufgefallen, wie intensiv sich die Kollegen auf das Thema eingelassen haben. Es war niemals fraglich, dass ich als Seelsorger dabei bin. Ich hatte auch nie den Eindruck, dass bei meinen Themen die Augenbrauen hochgezogen wurden, sondern man hat sehr genau zugehört und sehr intensiv mit mir diskutiert. Das deutet für mich darauf hin, dass viele Polizisten bereit sind, diese mental-psychologische Vorbereitung für sich selbst tatsächlich in Anspruch zu nehmen.

Rundblick: Wie hat sich die psychische Bewältigung von schwierigen Einsatzlagen bei Polizisten verändert?

Waterstraat: Ich glaube, dass es den Stress schon immer gegeben hat. Vielleicht sind aber heute die Möglichkeiten, über diese Dinge zu reden, zahlreicher geworden. Manchmal höre ich von älteren Kollegen: „Wir wären früher nie auf den Gedanken gekommen, jemanden wie Sie in Anspruch zu nehmen.“ Ich glaube, dass es einen Bewusstseinswandel gegeben hat. Das kann man mit dem Wandel in der Feuerwehr vergleichen, den ich erlebt habe. Als ich 1992 mit der Feuerwehrseelsorge in Niedersachsen angefangen habe, wurde ich erst mal belächelt. Das hat sich aber sehr schnell geändert, als die Feuerwehrleute gemerkt haben, dass ich von Einsatzerfahrungen rede und nicht nur von theoretischen Konstruktionen.  Bezeichnend für den Bewusstseinswandel in der Polizei ist für mich zum Beispiel ein Ereignis vor einigen Tagen. Da hatte es bei Pattensen nach einer Verfolgungsjagd einen schweren Unfall gegeben, bei dem zwei Autobahnpolizisten verletzt worden waren. Mittags wurde ich darüber in Kenntnis gesetzt und wurde nachmittags abgeholt, um zu der betroffenen Dienststelle zu fahren. Hier ist die Polizei ist aktiv geworden und auf mich zugekommen und das finde ich, ist ein sehr gutes Zeichen.

Rundblick: Was kann die Politik noch tun, um solche Angebote zu stärken und vielleicht auch die Bereitschaft der Polizei, das in ihren Alltag zu integrieren?

Waterstraat: Ich denke, Politik kann und muss den Rahmen setzen. Sei es die Ermöglichung von zeitlichen Freiräumen, um Aus- und Fortbildungen zu besuchen, oder die Schaffung von finanziellen Freiräumen, um entsprechende Angebote zu machen. Die Politik muss der Polizei aber vor allem zutrauen, dass sie auf der Basis unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung korrekt nach Recht und Gesetz handelt. Und sich dann schützend vor die Beamten stellen, wenn das aus rein ideologischen Motiven grundsätzlich in Zweifel gezogen wird.

Quelle: Rundblick. Politisches Journal für Niedersachsen, 16. November 2017